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Buchstabensuppe
Mirko Tobias Kussin, geboren am 14. Januar 1974 in Recklinghausen. Studierte
zuerst das eine (Architektur), dann das andere (Komparatistik/Politik).
Nahm an zahlreichen Literaturwettbewerben teil (LesArt Preis der jungen
Literatur der Stadt Dortmund 2001, 2002 und 2003; Recklinghäuser
Autorennacht 2002 und 2003) und gewann den einen (LesArt 2003) und den
anderen Preis (Vestische Literatureule 2004). Im Oktober 2006 folgte
der Bochumer Auf-Bruch-Stellen Preis. 2005 stellte er sein
Romanmanuskript "Pop will eat itself" im Rahmen einer Lesung am Montag
in der Stadt- und Landesbiliothek vor. Veröffentlichte auch in
Zeitschriften (do!pen, asphaltspuren, audimax) und Anthologien.
Fotografie: Philipp Wente // http://www.wenteindustries.com/
WAS KOSTET DIE VIRTUELLE WELT?
Als Lukas Klamm 1996 im Alter von 17 Jahren seine erste private Homepage mit der Adresse www.klamm.de
ins Netz stellte, war es nicht mehr als eine Spielerei. Das er zehn
Jahre später Vater einer über 200.000 Mitglieder starken Community und
Geschäftsführer seiner eigenen Firma sein würde, konnte er damals noch
nicht ahnen. Auch nicht, dass er praktisch durch Zufall eine virtuelle
Währung ins Leben rufen würde, die heute auf ebay ebenso gehandelt wird
wie Socken, Autos und CDs.

Im Oktober 2006 sitzt der 27-Jährige auf einem riesigen Sofa in
seiner modern eingerichteten Mannheimer Altbauwohnung und wirkt nicht
nur aufgrund der geschätzten Deckenhöhe von vier Metern ein wenig
verloren. In der Regalwand hinter ihm schimpft ein Wellensittich aus
seinem Käfig die Oktobersonne an, in der Küche rattert es beruhigend
aus seinem Nagerheim. Diese Wohnung ist eine charmante Mischung aus
Studentenbude und durchgestylter Jungunternehmerbleibe. Und genau
diesen Charme strahlt auch Lukas Klamm aus. Bescheiden, ja fast
verlegen, erzählt er vom Erfolg seiner Webseite. Einem Erfolg, der von
den Medien bis heute kaum wahrgenommen wurde. Er spricht von der
„Parallelwelt Internet“ und vom absoluten freien Markt. Und es blitzt
in seinen Augen, wenn er davon berichtet, dass er manchmal morgens um
vier aufsteht, um „eine Kleinigkeit“ auf seiner Seite zu verbessern.

Den Grundstein für das Wachstum der Community legte Lukas Klamm
1999, als er ein Werbebanner in seine Webseite einband und dadurch pro
Seitenaufruf einen Pfennig erhielt. Traumpreise, schwärmt er und liefert sofort einen Vergleichswert: Heute bekommt man den gleichen Betrag etwa für 1000 Werbeeinblendungen.
Klamm hatte die Idee, die Besucher seiner Seite an solchen Gewinnen zu
beteiligen, um so die Zugriffszahlen zu erhöhen. Pro Seitenaufruf
schrieb er registrierten Mitgliedern 0,3 Cent gut, auszahlbar ab 5
Euro. Die erste bezahlte Startseite Europas war geboren. Eigentlich
war Klamm.de sogar weltweit das erste realisierte Projekt. Die Idee
stammt jedoch nicht von mir. Ich las von solchen Plänen auf einer
amerikanischen Seite. Aber dort passierte monatelang nichts. Also habe
ich selbst so ein Projekt gestartet. Und schon wenige Tage später hatte
Klamm.de mehrere tausend registrierte Mitglieder, erzählt Klamm begeistert. Heutzutage
machen die Werbeeinblendungen nur noch einen kleinen Teil seines
Umsatzes aus. Das meiste Geld verdient Klamm durch Provisionen. Dabei
kann er sich auf Statistiken verlassen: Wenn ich 10.000
Handy-Werbebanner einblende, ist es einfach so, dass ein User ein Handy
kauft. Das ergibt dann für mich eine Provision von 60 Euro, die zu
einem Teil über die 0,3 Cent-Vergütung an die User weitergegeben werden. Die Frage danach, was genau so eine bezahlte Startseite eigentlich ist, beantwortet Klamm routiniert. Das ist immer die erste Frage, die mir gestellt wird. Klamm.de ist eine Portalseite, ähnlich wie Web.de, erklärt der diplomierte Informatiker. Auf
der persönlich konfigurierbaren Startseite finden sich alle
erdenklichen Features: SMS-Versand, dpa-Nachrichten, aktuelle
Börsenkurse, auf den Wohnort des Users zugeschnittene
Wetterinformationen, ein persönlicher Terminkalender oder eine
ebay-Anbindung, die das Beobachten von Angeboten ermöglicht. Und – natürlich – eine Google-Suchleiste. Heute
hat Klamm.de eine bemerkenswert treue Community. Im Tagesdurchschnitt
befinden sich ca. 5.000 User zeitgleich auf der Portalseite oder im
2004 eingerichteten Forum und sammeln 0,3 Cent-Beträge. „Kleinvieh
macht auch Mist“, sagt der Volksmund. Recht hat er, bestätigt Lukas Klamm. Monat für Monat zahlt er auf diese Weise 15.000 Euro an seine Mitglieder aus. Und der Umsatz? Der liegt bei etwa einer halben Million Euro im Jahr, sagt er leise, als müsse er sich dafür schämen. Aber wichtiger ist der Content. Ich will einfach besser sein als andere Seiten, erklärt er direkt danach.

Und dafür steht er wirklich nachts um vier auf? In manchen
Dingen bin ich Perfektionist. Ich liege im Bett und mir fällt ein, dass
auf irgendeiner Unterseite, die wahrscheinlich eh niemand aufruft, ein
kleines Detail nicht ganz stimmig ist. Eine Grafik etwa, die um einige
Pixel verschoben werden muss. Dann setze ich mich nachts vor den
Rechner und ändere das eben. Wieder ein verlegener Blick, ein leichtes Schmunzeln über sich selbst. Aus
dieser innovativen Haltung heraus entstand 2002 eine Internetwährung,
um die sich im Laufe der Jahre eine Parallelwelt mit rund 3.500
weiteren Webseiten entwickelt hat. Am Anfang stand die Idee, ein
Bonussystem einzurichten, um die Aktivität der User auf Klamm.de zu
erhöhen. Die Mitglieder sollten nicht nur die Startseite klicken,
um ihre 0,3 Cent zu verdienen, sondern aktiver durch die Seite
navigieren. Da ich diese zusätzliche Aktivität nicht durch weitere
Geldbeträge belohnen konnte und wollte, bekamen Mitglieder, die auf
Werbebanner und Links klickten oder im Forum aktiv waren, Bonuslose.
Die Klammlose können seitdem in einer wöchentlichen Verlosung
eingesetzt werden, bei der 25 mal 1 Euro ausgespielt werden. Ein Zufall ermöglichte schließlich den Handel mit diesen Losen. Ein
User frage mich per Email, ob er seine Lose einem anderen Mitglied
schicken könnte. Ich fand die Idee nicht schlecht, weil sie die Bindung
der Mitglieder untereinander förderte. Dass man ab diesem Zeitpunkt mit
den Losen handeln, sie für bares Geld verkaufen konnte, wurde mir erst
viel später bewusst, so der 27-Jährige. Die virtuellen Lose – nichts als Zahlen auf dem Datenbankserver von Klamm.de – bekamen einen realen Gegenwert.

Klamm baute dieses Transfersystem aus und entwickelte eine
Schnittstelle, durch deren Hilfe auch externe Seiten auf diese Lose
zugreifen konnten. Mit Erfolg! Bereits kurze Zeit später wurden die
ersten Spieleseiten von Klamm-Mitgliedern ins Netz gestellt. An
virtuellen Daddelautomaten konnten die User ihre Lose verspielen und
auf den großen Gewinn hoffen. Da selbst bei großer Aktivität auf
Klamm.de nur ein paar hundert Lose am Tag zu verdienen waren, lockte
ein Jackpot von ein bis zwei Millionen zahlreiche Spieler an, die auf
diesem Wege schnell zu vielen Losen kommen wollten. Meist, um sie
anschließend für bares Geld an andere Spieler zu verkaufen. Ein
Perpetuum Mobile war angestoßen: Immer mehr Loseseiten erblickten das
Licht der Welt, die Spieler wurden professioneller und einige
Programmierer spezialisierten sich auf die Entwicklung von
Slotmachines, die sie an andere Seitenbetreiber verkauften. Die
Bezahlung erfolgte – natürlich – in Losen, die sich im Laufe der Zeit
zu einem virtuellen Handelsgut entwickelt hatten. Da der Preis der
Klammlose einzig durch die Faktoren Angebot und Nachfrage beeinflusst
wird, spekulierten nicht wenige Mitglieder auf große Gewinne. Der Preis
für eine Million Lose stieg auf die astronomische Summe von 200 Euro. Ein völliger Phantasiepreis,
sagt Klamm kopfschüttelnd. Und das, obwohl diese Lose laut Definition
auf Klamm.de einen reinen Bonus darstellten und keinen Gegenwert haben
sollten. Der Parallelwelt war das egal. Die Parallelwelt wuchs weiter. Es
wurden Losebanken gegründet, auf denen Mitglieder ihre ersparten Lose
anlegen oder Loskredite aufnehmen konnten. Auf privater Ebene, also
zwischen den einzelnen Usern, wurden Lose gegen horrende Zinssätze von
1%/ Tag verliehen. Und – wie im realen Leben – kam es auch hier zu
ersten kleineren und größeren Betrügereien. Wenn solche Sachen auf
Klamm.de passieren, habe ich die Möglichkeit, die Lose
zurückzutransferieren und den betreffenden User zu sperren. Außerhalb
von Klamm.de fehlen mir die Möglichkeiten als auch die Zeit, erklärt Lukas Klamm. Das
Ausmaß dieser Betrügereien ist nicht zu unterschätzen. Es beginnt mit
einfachem Loseleihen – User B leiht sich von User A Lose und zahlt
diese nicht zurück – und endet damit, das ganze Losebanken einfach über
Nacht aus dem Netz genommen werden. Inklusive dem vorhandenen
Loseguthaben der Mitglieder natürlich, das im Extremfall mehrere
Millionen Lose beträgt und im Verkauf einen vierstelligen Eurobetrag
einbringen würde. Und hier schwappt die Parallelwelt in die Realität.
Mahnbescheide werden verschickt und Anzeigen aufgegeben. Fast täglich
bekommt der 27-Jährige Post von hilflosen Staatsanwälten und Rat
suchenden Anwaltskanzleien, die nicht so recht wissen, wie sie
virtuelle Phänomene wie Klammlose, Losebanken oder einen
Spieleseiten-Jackpot in die reale Welt übertragen sollen. Genau an
dieser Grenze haben sich einige Mitglieder der Community eingerichtet
und bestreiten durch das Betreiben von Loseseiten oder mit dem
Losehandel ihren Lebensunterhalt. Wie im realen Leben gilt auch hier
die Devise: billig einkaufen und teuer verkaufen. Bei einer Ware, die
weder leicht verderblich ist noch Lagerkosten verursacht, reichen
kleinste Gewinnspannen, um bei entsprechend großem Transfervolumen
davon leben zu können. Ein Phänomen, das nicht nur auf Klamm.de existiert, sondern auch in anderen Bereichen des Internets zu finden ist. In
China gibt es ganze Firmen, die sich darauf spezialisiert haben,
Ressourcen für das Onlinespiel „World of Warcraft“ zu verkaufen. Da
sitzen Spieler bis zu 18 Stunden am Tag vor ihren Rechnern und sammeln
mit ihren Spielfiguren Gold und andere Gegenstände, die sie dann
anderen Spielern gegen echte Geldbeträge schicken. „Farming“ nennt
nicht nur Lukas Klamm dieses Phänomen. Und diese Entwicklung steht
gerade erst am Anfang. Der neueste Hit heißt „Second Life“. Dieses
Spiel verbindet virtuelle Welt und Realität so umfassend miteinander,
dass es seit kurzem sogar eine Second-Life-Ausgabe der Bildzeitung
gibt: herausgegeben von Springer-Verlag selbst.

Zurück zu den Losen: Nach fast fünf Jahren gibt es im weltweiten
Netz eigentlich nichts mehr, was es nicht gibt: Onlineshops, in denen
man Laptops, PC-Systeme und Zubehör mit Losen kaufen kann,
Erotikangebote mit direkter Anbindung zum Losekonto des Nutzers und
sogar eine Losebörse, an der knapp 100 Loseprojekte notiert sind.
Unterschiede zu den Börsen in Frankfurt oder New York gibt es nur
wenige. Stop-Loss-Order, Aktiensplitting und Gewinnmitnahmen gehören
zum Alltagsgeschäft des Loseaktionärs. Hier liegen Realität und
Parallelwelt erneut dicht beieinander, denn die Marktmechanismen beider
Welten ähneln sich stark. Nicht wenige Loseaktionäre sehen ihre
Aktivität an der Losebörse als Training für einen späteren Einstieg an
der echten Börse. Lukas Klamm ist sich seiner Verantwortung den
Losehändlern und -sammlern gegenüber durchaus bewusst. Er sieht sich
als Währungshüter, reduziert zum Beispiel nach zahlreichen Klagen über
eine zu große Losmenge die Ausschüttung von neuen Losen und schuf
gleichzeitig Möglichkeiten, die Losemenge langsam aber stetig zu
reduzieren. Er zieht jedoch ganz klare Grenzen, wenn es um
moralische Fragen geht. Da die Lose offiziell keinen Gegenwert haben,
können sie auch von 12-Jährigen auf den diversen Spieleseiten gesetzt,
gewonnen oder eben auch verloren werden, ohne dass dies als Glücksspiel
definiert werden könnte. Ein mögliches Suchtpotenzial sei durchaus erkennbar, aber
niemand muss sich auf ebay oder im Forum Lose kaufen, man bekommt sie
auf Klamm.de, wenn auch nur in kleinen Mengen, geschenkt. Auch nach fast fünf Jahren findet Lukas Klamm den Losehandel noch immer skurril. Ich mein’, die kaufen ja nichts. Die kaufen eine Zahl in meiner Datenbank.
Sein Blick zeigt bei dieser Aussage eine Befremdlichkeit, wie man sie
eher von einem 90-Jährigen in einem Tattoostudio erwarten würde. Wie
viele Lose es insgesamt gibt, will Klamm nicht verraten. Aber einen
Richtwert gibt er an: ein zweistelliger Milliardenbetrag. Genauere
Zahlen teilt er auch seinen Mitgliedern nicht mit. Zum einen, um nicht
in die immer wiederkehrende Diskussion zu verfallen, es gäbe zu viele
Lose, das Angebot wäre zu groß und der Preis würde ins Bodenlose
fallen. Eine lange Zeit lang geisterte der Begriff „Losinflation“ durch
das Forum. Zum anderen aber wohl auch, weil Klamm das Ausmaß seines
Bonussystems noch immer etwas seltsam findet. „Es sind doch nur Lose“,
heißt es auch im Forum oft und immer ironisch, wenn sich mal wieder ein
User über irgendwelche Verluste beklagt.
Für Lukas Klamm sind es wirklich nur Lose. Diese Tatsache wird nicht
zuletzt an seinen Zukunftsplänen deutlich. Zwar wird er das Bonussystem
nicht abschaffen; schließlich gibt es zu viele User, die durch die Lose
und ihre Einsatzmöglichkeiten auf Klamm.de aufmerksam werden. Mittel- bis langfristig will Klamm jedoch die 0,3 Cent-Bezahlung einstellen, denn: Ab einer gewissen Mitgliedzahl trägt sich so eine Community selbst.
Dann steht das social network im Mittelpunkt, der Kontakt der User
untereinander. Das Potenzial für so eine Seite liegt bei mehreren
Millionen Nutzern und Lukas Klamm ist zuversichtlich, dass er dieses
Potenzial in Zukunft ausschöpfen kann. Die „Klammunity“ wächst seit
Jahren relativ beständig um vier- bis fünftausend Mitglieder pro Monat. Aber ist der Verdienst nicht ein zentraler Aspekt von Klamm.de? In
den Anfangszeiten waren die Verdienste der Mitglieder sicherlich der
wichtigste Werbefaktor für meine Seite. Aber inzwischen nehmen
zahlreiche Mitglieder diese Verdienstmöglichkeit gar nicht mehr war.
Man muss inzwischen bei jedem Aufruf der Startseite ein kleines
Popupfenster bestätigen. Dies wurde vor einiger Zeit nötig, als wir
vermehrt automatisierte Aufrufe der Startseite bemerkten. Einige User
schrieben sich Programme, die 24 Stunden am Tag im Abstand von 15
Minuten die Startseite aufriefen und jedes Mal 0,3 Cent verdienten. Dieses
Bestätigungsfenster rufen viele User inzwischen gar nicht mehr auf. Sie
sind der Lose wegen auf Klamm, oder weil sie im Forum zu fast jedem
Problem sehr schnell kompetente Antworten erhalten. Hatte er niemals das Bedürfnis, dieses Projekt an den Nagel zu hängen? An
den Nagel zu hängen? Eigentlich nein. Es gab ein, zwei Kaufangebote für
die komplette Seite. Ein siebenstelliger Eurobetrag stand zur
Diskussion und ich hätte als Angestellter der Betreibers auch weiter an
der Seite arbeiten können. Aber – und wieder wirkt er ein klein wenig verschämt – Klamm.de ist halt mein Baby. Und das verkauft man doch nicht einfach so.
Mirko Kussin
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